Auf Muhu wachsen die Steine

Die drittgrößte der estnischen Inseln ist im Sommer ein helles Vergnügen. Der Gast genießt Stille und Natur pur.

Von Inge Ahrens

Berliner Zeitung, Juni 10, 2006

Wer an einem der nicht enden wollenden Sommerabende mit dem Pädaste-Gutshotel im Rücken in den Geröllwiesen an der Ostsee steht, schaut Richtung Südwest auf eine Handvoll flacher Inseln, deren grüne Schöpfe sich verheißungsvoll aus dem flammend gelben Schilf sträuben. Eisblau ist der Himmel noch um elf Uhr nachts hier im Norden auf Muhu. Ein paar weiße Wölkchen verflüchtigen sich im abflauenden Wind. Im nahen Kiefernwald rauscht es geheimnisvoll. Nur Schnepfen und Lappentaucher flöten im Ufergras. Und ein Schwanenpaar zieht lautlos vorbei, macht silberne Wasserrippen. Der Mensch schweigt im romantischen Bild. Auf Muhu wachsen die Steine, und die Natur spricht.

 

Muhu. Wie das schon klingt. Wie hingehaucht. Die Insel an Estlands Westküste ist gerade mal 198 qkm groß und liegt immer etwas im Schatten ihrer größeren Schwester Saarema, die mit Heilschlammbädern und Bischofsburg Touristen lockt. Muhu ist Weideland und Märchenwald in einem, mit einer handvoll verstreuter Dörfchen und 200 Jahre alten Steinmauern, die inselweit eine Art Steingarten bilden. Muhu ist ein Biotop im Baltischen Meer, verschlossen 50 Jahre als Teil der sowjetischen Republik Estland.

Sie ist die drittgrößte der Inseln von geschätzten 500 in Westestland.

Manche sind so klein wie ein Spuck und nur bei Flachwasser zu sehen. Als militärisch strategisch wichtige Orte waren Gäste auf ihnen unwillkommen.

 

Tallinn ist nicht weit. Keine zwei Stunden sind es mit dem Auto. Nur einen Katzensprung macht die Fähre von Virtsu nach Kuivastu auf Muhu. Von der Hauptstraße Nr.10 führt links ab eine Schotterpiste Richtung Pädaste und endet bald vor einer Anordnung granitsteinerner bäuerlicher Gebäude, die ein neugotisches Gutshaus mit abblätterndem Charme flankieren. Die wunderschöne Anlage aus dem 16. Jahrhundert ist samt Landschaftspark zum Meer hin geöffnet. "Von hier aus können Sie nach Amerika segeln", zwinkert Martin Breuer verschwörerisch.

 

Wer jetzt nicht bleibt, ist selber schuld, denn Pädaste ist eines der schönsten Hotels von ganz Estland, eines der ruhigsten auch. Nachts, bei geöffneten Fenstern in den Kissen liegend, rauscht nur der Wind in den Robinien, und glockenhell singen die Nachtigallen. Martin Breuer und sein Partner Imre Sooäär haben den heruntergekommenen einst baltendeutschen Adelssitz 1996 wachgeküßt und sorgen jetzt für gepflegte Ferien. Wer will, kann auf Pädaste eines der gelassenen Pferde satteln, mit der Jolle zur Liebesinsel rübersegeln, im Restaurant die moderne inselnahe Küche kennenlernen oder auf der salzluftgebleichten Schaukel im Wiesenschaumkraut am Kleinen Sund sein Lieblingsbuch auslesen.

 

Muhu ist perfekt zum Radeln. Autoverkehr gibt es praktisch nur, wenn eine Fähre kommt. Einziger Feind ist der Wind. Nahe Hellamaa besuchen wir Martin Kivisoo auf seinem Reiterhof. Seine Pferde weiden auch auf Pädaste. Der liebenswerte Sechzigjährige ist Philologe fürs Estnische. Deutsch hat er nach Schiller und Goethe gelernt und auch sonst alten Charme bewahrt. Die gerade mal zwei Monate jungen Fohlen seiner 182köpfigen Herde stupsen uns zärtlich in die Seiten und knabbern an unseren Mantelknöpfen.

 

Ein sandfarbenes Mädchen folgt seiner Mutter, die unsere Kutsche zieht, bleibt mal an ihrer Seite, um immer wieder neugierig wiehernd ins Gehölz zu stieben. Drei Stunden geht es so heiter miteinander durch Wälder und Veilchenteppiche und Lichtungen, auf denen weiße Anemonen im Wind schaukeln.

Moosige Mauern teilen die Schlüsselblumenwiesen, und die pastellfarben getünchten Muhu-Holzhäuschen unterm Strohdach fliegen vorbei. Längst haben wir rote Backen vom frischen Wind, sind durchgerüttelt von Muhus Buckersteinerde und fühlen uns ein wenig wie in einem alten Märchen.

 

Martin Kivisoo erzählt vom Inselleben, von Geistern und Steinen und bedeutenden Quellen, denn Muhu ist Natur pur, und die ist ihren Bewohnern heilig. Keine 2000 Menschen leben auf der Insel, hoffend auf Tourismus, der wachsen soll. Selbstversorger mit eigenem Garten, der schwer nur wächst, denn Muhu ist Kalkstein fast pur. Nur eine dünne Humusschicht bedeckt den Boden, und nach jedem Winter sind neue Steine aus dem Boden gewachsen. Am naturgeschützten nördlichen Steilufer Üügu beim Dorf Kallaste kreist der Steinadler über glasklaren Quellen und Orchideen in moosigen Matten.

 

Hier kann man den Kalkstein deutlich sehen und ganz allein baden, wie fast überall auf Muhu. Sandstrand gibt es sowieso nicht. Martin Kivisoo führt die Kusche auf und ab im Wacholderwald. Mehr als mannshoch und bis ans Meer wachsen kilometerweit die Beeren. Kein Haus in sicht, nur Meeresrauschen und der Kräuterduft im Wind. Wieder auf Pädaste, lassen wir zur Dämmerung das Holzfaß am Meer anheizen und sitzen bei rosa Schlierenhimmel und Vogelgebalze im Meerwasser und schwitzen.

 
Koguva muß man gesehen haben. Das Dorf im Inselwesten, so altersschön.

Hinter den 1 Meter 50 hohen Steinmauern liegen die Gehöfte mit tief heruntergezogenen Reetdächern und jeder Menge Holz vor der Tür. Ausgediente Boote ruhen wie gute alte Freunde auf den Mauern. Blumen blühen. Es riecht nach Meer, denn die Ostsee schwappt bis fast an die Haustür. Koguva wurde schon 1532 erwähnt. Hier wohnen echte Muhulaner und Sommergäste.

 

Koguva hat ein Museum, das war das Vaterhaus der des Dichters Juhan Smuul. Man kann noch seinen Schreibtisch sehen, die Sauna im Viehstall, die Mägdekammern, Wohnstube, allerlei Werkzeug und die Handarbeiten der Frauen.

Wenn gefeiert wird, tragen die Männer Strickwesten aus apfelsinenfarbener Schafwolle und die Frauen Strümpfe mit bunten Schneekristallmustern. Muhu ist unspektakulär, wird mancher sagen. Oh, guck mal, ein Schwarzerlenwald!

Gibt¹s das noch?, finden andere.
 

Muhu ist eine einzige Erholung. Trotz der kurzen und heftigen Sommer von Juni bis September gehören aber Pullover und Regenjacke ins Reisegepäck.

Stadtgeräusche , ­ gibt¹s nicht. Dafür die Rufe von Birk- und Auerhahn am frühen Morgen und die Stimme des Windes, immer wieder anders.

 

Es sei noch der Besuch der Katharinenkirche in Liiva empfohlen, deren erster Stein schon 1267 gelegt wurde. Von den einst üppigen Wandmalereien zeugen noch einige Seefahrermotive . In Liiva findet man auch den einzigen Geldautomaten auf der Insel, und wer mit dem Bus nach Tallinn zurückfährt, steigt hier ein. Auch Nautse ist schön. Da werden seit neuestem Strauße gezogen, die ihr Ende in den estnischen Kochtöpfen finden und auch sonst zu allerlei Andenken verarbeitet werden. "Vom Strauß bleibt nur noch die Seele", lacht Kaja Kuntsel, die örtliche Fremdenführerin. Nautse ist eine Art Künstlerdorf mit besonders schmucken Häuschen und einem Musikfestival im Sommer.

 

Und da Muhu wirklich klein ist, kann man alles abradeln: Baden in Rannaküla mit der Dorfjugend; bei Niedrigwasser trockenen Fußes inselhopsen von Koguva bis nach Koinastu. Martin Breuer geht im August mit Pädastegästen Flußkrebse fischen. Im Juli ist es am wärmsten auf Muhu. Kältester Monat ist der Februar. Da kann es schon mal vorkommen, daß der Große Sund zugefroren ist und die Autos gemächlich über das Eis kommen.

 

Dann ist Muhu noch stiller, und Pädaste mit seinen vielen Kaminfeuern, dem Spa und der Sauna ist besonders gemütlich. Auch Martini Kivisoo hat Wintergäste, holt seine Pferdeschlitten aus der Remise. Aus den Schornsteinen der kleinen Muhu-Häuser steigt dann der Rauch, und die Steinmauern haben weiße Mützen. Vielleicht kommt dann der scheue Elch endlich aus dem Wald, auf den wir in unserer heißen Tonne sitzend so sehnsüchtig gewartet haben.

 

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